„Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschule noch nichts zu suchen“, sagt CDU-Politiker Carsten Linnemann. Die persönlichen Geschichten, die Menschen in den sozialen Medien teilen, beweisen das Gegenteil.
Nur mit Deutschkenntnissen in die Grundschule? CDU-Politiker erhält Widerspruch
Ein Kind, das kaum Deutsch verstehe und spreche, habe auf der Grundschule noch „nichts zu suchen“ – so äußerte sich Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann in einem Interview mit der Tageszeitung Rheinische Post. Der Volkswirt aus Paderborn meint, um das erwünschte „Leistungsniveau“ an Schulen beizubehalten, müsste für Kinder ohne umfassende Deutschkenntnisse eine Vorschulpflicht greifen: „Notfalls muss seine Einschulung auch zurückgestellt werden.“
Viele Menschen in den sozialen Medien reagieren mit Verständnislosigkeit und Wut auf die Äußerung des Politikers. Manche von ihnen, die selbst eine Zuwanderungsgeschichte haben, erzählen, wie sie ohne vollständige Deutschkenntnisse eingeschult wurden und dennoch einen Abschluss erlangen, studieren oder sogar promovieren konnten. So auch User Nabard Eff: „Ich hab in der Grundschule erst Deutsch lernen dürfen. Jetzt werde ich Arzt. Promoviere parallel“, schrieb er auf Twitter. Rund 3.400 Menschen gefällt das:
Ich hab in der Grundschule erst deutsch lernen dürfen.
Jetzt werde ich Arzt.
Promoviere parallel.Populistischer Humbug eines Provinzkasperls zum Sommerloch https://t.co/UiNxEOy7B4
— Nabard Eff. (@nbardEff) August 5, 2019
Andere User*innen berichten von ähnlichen Erfahrungen, darunter auch Politikerinnen wie die Baden-Württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras und die Landtagsabgeordnete Aminata Touré aus Schleswig-Holstein sowie der Pianist Igor Levit:
Wo fange ich da an? Ich habe kein Deutsch gesprochen bevor ich in die Schule gekommen, weil meine Schwester und ich nicht in den Kindergarten durften (!!) in den 90ern. Weil wir Asylsuchende waren. Ein Ort, an dem wir hätten die Sprache lernen können! https://t.co/Zq9LwlUHg6
— Aminata Touré (@aminajxx) August 5, 2019
Ich sprach kein Deutsch, als ich als 12-Jährige in die Hauptschule kam. Als meine Nebensitzerin in der 1. Stunde sah, dass ich die Matheaufgabe gelöst hatte, durfte ich sie an der Tafel vorrechnen. Später habe ich ein Steuerbüro aufgebaut und wurde Präsidentin @Landtag_BW https://t.co/OhBZNLYiMA
— Muhterem Aras MdL (@Muhterem_Aras) August 5, 2019
Merke: dieser @CDU Mann hätte mich 1996 in keine Grundschule gelassen. Was für ein kleiner, trauriger Vollprofi. Ok. #NieMehrCDU https://t.co/NygSXLqfE8
— Igor Levit (@igorpianist) August 5, 2019
Auch die Autorin und Lehrerin Bahar Aslan meldete sich über Twitter zu Wort und erklärte in mehreren Tweets, warum solch ein Ausschluss von Kindern der falsche Weg sei: „Nach der Kita ist für Kinder, egal ob oder ohne Zweitspracherwerb, die Grundschule der wichtigste Sprachlernort. Die Grundschule ist unter anderem auch deswegen wichtig, weil der Ausbau sprachlicher Kompetenzen mit der Aneignung der Schrift verbunden ist“, kommentiert sie. „Statt über ein Verbot nachzudenken, könnte man ja mal Folgendes probieren: Verbesserung der unterrichtlichen Praxis in mehrsprachigen Lerngruppen […]“
Warum ein Grundschulverbot für Kinder, die kein Deutsch können absoluter Unfug ist:
1. Der Schulerfolg von Kindern mit einer nichtdeutschen Herkunftssprache, hängt entscheidend davon ab wie es gelingt ihre sprachlichen Fähigkeiten weiter auszubauen. @cducsubt @CDU pic.twitter.com/mVj4IdLmv7
— Bahar Aslan (@BaharAslan_) August 5, 2019
3. Nach der KITA ist für Kinder, egal ob oder ohne Zweitspracherwerb, die Grundschule der wichtigste (!) Sprachlernort. Die Grundschule ist u.a. auch deswegen wichtig, weil der Ausbau sprachlicher Kompetenzen mit der Aneignung der Schrift verbunden ist.
— Bahar Aslan (@BaharAslan_) August 5, 2019
5. Kinder erlernen eine zweite Sprache im frühen Alter im wesentlichen wie ihre Erstsprache: UNGESTEUERT- D.b.: Die innere Logik und Struktur der neuen Sprache wird SELBSTSTÄNDIG erschlossen. Siehe Punkt 4: Ohne eine kommunikative Interaktion kann dies nicht gelingen.
— Bahar Aslan (@BaharAslan_) August 5, 2019
7. Ach ja, und noch was: Das dieses wichtige Thema so billig und populistisch in die Öffentlichkeit getragen wird ist ein echtes Armutszeugnis! Was Kinder brauchen sind keine Verbote, sondern tatkräftigen Support, Empowerment und guten Unterricht!
— Bahar Aslan (@BaharAslan_) August 5, 2019
Muttersprache ist der Schlüssel für die Zweitsprache
Sprach- und Kognitionswissenschaftler*innen betonen tatsächlich immer wieder, dass Migrant*innen mit ihren Kinder nicht unbedingt Deutsch, sondern ihre Familiensprache sprechen sollten. Gila Hoppenstedt vom German Institute for Immersive Learning (GIFIL) begründet das damit, dass die Muttersprache der Schlüssel für die zweite Sprache sei. Die erste Sprache forme kognitive Voraussetzungen, um Inhalte zu verstehen und zu verarbeiten, die dann in der Kita oder Grundschule gelernt werden. Ähnlich äußerte sich der Linguist und Buchautor Jürgen Meisel in einem Interview der Süddeutschen Zeitung (Bezahlinhalt). Zwar betont er, dass der Erwerb der Zweitsprache vom sechsten Lebensjahr an schwieriger sei als mit drei oder vier Jahren. Das liege jedoch nicht unbedingt an der Mehrsprachigkeit der Kinder, sondern auch in der „sozialen Benachteiligung“.